In diesem Beitrag kommentiere ich das „Memorandum für eine andere Migrationspolitik in Deutschland“ der „Vert Realos“ vom 11. Februar 2023.
Das Thema Migration entwickelt sich zu einer Zerreissprobe für die Gesellschaft allgemein und die Grünen im besonderen. Eine Diskussion darüber ist gut und überfällig.
Das Memorandum ist ein nützlicher Beitrag dazu, weil es eine weit verbreitete Sichtweise greifbar macht. Deshalb lohnt es sich, sich damit auseinanderzusetzen. Als wertvollen Beitrag kann ich es nicht bezeichnen, weil es sowohl im fachlichen Detail als auch im grundsätzlichen Ansatz schlampig ist. Das begründe ich in den folgenden Abschnitten. Im letzten Abschnitt skizziere ich einen anderen Ansatz.
Die Details
Unter Punkt 2 der „Maßnahmen der Steuerung“ heißt es: „Aus dem Asylrecht […] erwächst ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht. Dies setzt voraus, dass die Asylempfänger sich einordnen in die geschichtlich gewachsene gesellschaftliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland.“ Aus dieser Passage spricht ein bedenkliches Rechtsverständnis. Die Einschränkung eines Rechts ist nur möglich unter klaren und strengen Voraussetzungen. Dass sich jemand „nicht einordnet“, ist kein Grund, ein Grundrecht zu verlieren. Kurz darauf schreiben sie: „Wer diese Grundwerte nicht akzeptiert, kann hier eigentlich nicht leben wollen.“ Dieser Satz ist schon fast niedlich in seiner Naivität – wenn er nicht von Menschen unterschrieben wäre, die Politikverantwortliche in einem Rechtsstaat sind.
Punkt 7 besagt: „Bewerberinnen und Bwererber ohne Papiere müssen zurückgewiesen werden, oder in einer staatlichen Aufnahmeeinrichtung verbleiben bis ihre Identität geklärt ist.“ Die Autor*innen des Memorandum wissen offenbar nicht, dass es viele Menschen gibt, die noch nie Papiere hatten (beispielsweise Roma in der Ukraine).
Es gibt viele Punkte, die mich sehr erinnern an Gespräche mit Mitbürger*innen, die neu in der Diskussion sind: Die Vorstellung, dass es sich sauber trennen ließe zwischen Asyl, Krieg und wirtschaftlichen Gründen (Nein, vor allem nicht in Failed States, aus denen die meisten Geflüchteten kommen.) Oder dass man Ankommende kurz in Erstaufnahmeeinrichtungen aufnehmen und dort entscheiden könnte (das wurde oft versucht und hat noch nie funktioniert). Oder man fragt sich, ob die Autor*innen noch nie etwas vom Resettlementprogramm gehört haben? Oder davon, dass die Geflüchteten aus der Ukraine nicht verteilt werden, sondern sich selber ihren Wohnort suchen?
Manche Passagen sind nicht nur schlecht informiert, sondern suggerieren Falsches. Beispielsweise wenn behauptet wird, es werde keine klare Grenze gezogen und direkt anschließend Verhüllung, Zwangs- und Frühverheiratung und sogenannte „Ehrenmorde“ als Beispiele aufgezählt werden. Nein, „Ehrenmorde“ sind in Deutschland auch für Geflüchtete nicht toleriert. Die Grenze ist hier wie für alle anderen auch das Strafrecht.
Es gibt bestimmt bereits gute Analysen der Details. Für mich ergibt es folgendes Bild: Eine gewisse Unkenntnis von Fakten und die Hoffnung auf einfache Lösungen sind in unter Umständen in Ordnung. Unter den gegebenen Umständen, nämlich einem Memorandum von aktiven Politiker*innen zu einem hochkritischen Thema, ist das nicht in Ordnung. Ich fürchte, dass der Grund für diese Unschärfen nicht die Unkenntnis der Autor*innen ist, sondern dass hier Leute „abgeholt“ werden sollen. Sie werden dann mit suggerierten Zusammenhängen (keine klare Grenzen – „Ehrenmorde“) zur Sichtweise der Autor*innen gelenkt. Und dieses Sichtweise beruht auf ihrem grundsätzlichen Ansatz.
Der grundsätzliche Ansatz
Welche Annahmen liegen dem Memorandum zugrunde? Das zeigt sich schon in den ersten Worten: „Einwanderung steuern!“. Wer steuert? Wir, die Deutschen. Wir müssen unsere Erwartungen formulieren. Wir drehen den Hahn auf und zu, wir leiten die Leute in Erstaufnahmeeinrichtung, werten sie ein und schicken sie in Kurse und verteilen sie auf Bundesländer.
Ein Satz lautet: „Wir fordern, dass die Migration in die Europäische Union und nach Deutschland so organisiert wird, dass sie für die Menschen, die kommen, aber auch für die Menschen, die hier leben, akzeptabel und tragbar ist.“ Das ist richtig.
Im weiteren Verlauf des Memorandum ergibt sich leider etwas ganz anderes. Die Interessen der hier lebenden Menschen sind gesetzt, die der anderen werden verwischt. Wenn eine echte Interessenabwägung stattfinden würde zwischen Menschen aus Afghanistan und Syrien (die weiterhin die Hauptherkunftsländer im Asylbereich sind) und unseren überlasteten Kommunen und den Menschen, die schon dort leben – uns allen ist klar, was dabei herauskommen würde.
Aber wir wollen es nicht wahrhaben. Auch diese Leute nicht, die sich „Realos“ nennen. In Wirklichkeit sind sie Träumer*innen und wünschen sich in das gute alte statische Deutschland zurück, als Migration noch eine Randerscheinung war.
Ein wirklich realistischer Ansatz, und eine Entscheidung
Die Zeiten, in denen Migration ein nebensächliches Thema der deutschen Gesellschaft war, sind vorbei. In diesem Punkt stimme ich dem Memorandum zu: Das geht nicht wieder weg, das wird noch mehr. Lange Zeit war Reisen ein Privileg von einem kleinen Teil der Weltbevölkerung. Heute ist das anders: Informationen und Ideen verbreiten sich weltweit, Gebiete werden verkehrstechnisch erschlossen, mehr und andere Menschen machen sich auf den Weg.
Die Realität ist, dass die Menschheit insgesamt mobiler geworden ist. Und dass eine der Folgen ist, dass viele Menschen in Deutschland ankommen, die gute Gründe dafür haben, hier leben zu wollen; überzeugendere Gründe als die, es ihnen zu verwehren.
In einem zweiten Punkt stimme ich dem Memorandum zu: Diese Einwanderung hat auch seine hässlichen Seiten. Es ist nicht geschenkt, für keine*n der Beteiligten. Es kommen auch Gewalt, Frauenverachtung, Verwahrlosung und Mangel an Bildung hier an.
Und was macht man damit? Das kommt auf den Einzelfall an. Ich kenne einen geflüchteten Pakistani, Mitglied einer religiösen Minderheit, die ein gruseliges Frauenbild hat und in Pakistan verfolgt wird. Ich setze mich dafür ein, dass er bleiben und seine Frau nachholen kann. In diesem Fall. Es gibt auch andere.
Hier wird das Memorandum immer wieder sehr vage: „Wir sehen als Voraussetzung an“, „wir können erwarten“. Und was, wenn nicht? Das bleibt unausgesprochen. Mit gutem Grund, denn dann würde herauskommen, dass nur wenige abgeschoben werden können. Bei den meisten wäre das nicht nur unmenschlich sondern auch ein Bruch des geltenden Rechts.
Ich stimme dem Memorandum in einem dritten Punkt zu: Der jetzige Zustand ist nicht zu halten. Die Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit zerreißt uns. Hier die europäischen Werte und die Menschenrechtspartei Bündnis 90/ die Grünen. Dort die im Mittelmeer Ertrinkenden.
In welche Richtung lösen wir diesen Widerspruch auf?
Die Situation erinnert mich an den Konflikt zwischen dem Ideal von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit der französischen Revolution und der Wirklichkeit der Sklaverei. Die einen haben beschlossen, die Sklaverei zu bekämpfen. Das galt damals als eine unmögliche Belastung der sklavenhaltenden Länder, deren Wirtschaft darauf beruhte – ein geradezu selbstzerstörerischer Ansatz.
Die anderen lösten den Konflikt für sich auf, indem sie ihn mit Rassismus wegerklärten.
Wir stehen wieder vor so einer Zerreißprobe. Die Welt ändert sich, wie gehen wir damit um?
Ich habe mich entschieden. Meine Hoffnung ist, dass sich die „Realos“ vom Manifest es sich noch einmal überlegen.